Christine Pollerus
Christine Pollerus, geboren 1973 bei Graz, erhielt bereits im Alter von drei Jahren Begabten-Frühförderung an der Kunstuniversität Graz und widmete sich dann einige Jahre dem Violinspiel. Ab 1991 studierte sie Musikwissenschaft an der Universität Graz, ab 1994 Gesang an der Kunstuniversität Graz bei Josef Loibl und besuchte zahlreiche Meisterkurse u. a. bei Jessica Cash, Francisco Araiza, Kai Wessel, Ute v. Garczynski und Inger Wieröd. 1999 diplomierte sie als Mezzosopran mit Auszeichnung zur Magistra artium. 2001 wagte sie den Fachwechsel zum Sopran und spezialisierte sich in der Folge 2003 bis 2005 mit einem Aufbaustudium an der Schola Cantorum Basiliensis/CH bei Jesper Christensen auf barocke Kammermusik. Besonders begeistert sie sich auch für historische Schauspielkunst und Gestik, deren Grundlagen sie bei Margit Legler und Reinhold Kubik in Wien erlernte. 2005 promovierte sie mit Auszeichnung zur Doktorin der Philosophie mit einer Biographie und gesangsästhetischen Analyse der Sängerin Regina Mingotti (1722–1808). Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, u. a. 2000 den Würdigungspreis des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Seit 2006 ist sie wissenschaftliche Beirätin der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts.
Schon während des Studiums wurde sie als Mitarbeiterin an die Kunstuniversität Graz berufen, 1998 bis 2002 als Lehrbeauftragte am Institut für Musiktheater, 2002 bis 2009 arbeitete sie als Wissenschaftlerin am Institut für Musikästhetik, dessen stv. Institutsvorständin sie auch war. 2010 verwirklichte sie einen langgehegten Traum, machte sich als Künstlerin und Wissenschaftlerin selbständig und gründete den Spezialverlag für Alte Musik und Aufführungspraxis „Edition Ehrenpforte“. Mit Enthusiasmus übt sie sich im ständigen Spagat zwischen Forschung, Lehre und Kunstausübung. Phasenweise überwiegt dabei die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen und Vorträge bei internationalen Kongressen, wie etwa dem Sommersymposium der Salzburger Festspiele, dann die Abhaltung von Meisterkursen, etwa an der DTU Dublin oder der Jerusalem Academy of Music, dann wieder die Zahl der künstlerischen Aktivitäten: Zwei CDs mit dem Ensemble Musicke’s Pleasure Garden (Kantanten von Barbara Strozzi, bzw. Kantaten von Johann Adolph Scheibe) sind in Vorbereitung. 2011 war sie als Sängerin und "Regisseurin" des historisch informierten Gestik-Konzepts für den großen Erfolg der Israel-Tournee der Austrian Baroque Connection mit A. Scarlattis Oratorium "Agar et Ismaele esilati" mitverantwortlich.
christine.pollerus@musickespleasuregarden.com, www.ehrenpforte.at
Barocke Gestik
Die heute übliche konzertante Vortragsart von Vokalmusik durch einen relativ statischen, an seinem Platz vor dem Klavier, Cembalo oder Orchester fixierten Sänger war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts völlig undenkbar. Denn auf den barocken Bühnen wurde die antike Tradition der Redekunst, der Rhetorik, gepflegt, zu welcher der „gute Vortrag“ durch Stimme und Körper unbedingt dazu gehörte. Quintilian versuchte im 1. Jahrhundert n. Chr. als erster, die dazu notwendigen Gesten systematisch zu ordnen. In der Folge erschienen bis ins späte 19. Jahrhundert zahlreiche Lehrbücher der Gestik für Anwälte, Prediger, Schauspieler, Sänger und alle anderen, die Text überzeugend vortragen sollten. Zu den bedeutendsten davon gehören Francicus Langs „Dissertatio de actione scenia“, München 1727, und Gilbert Austins „Chironomia or a treatise on rhetorical delivery“, welches 1818 als „Die Kunst der rednerischen und theatralischen Declamation“ auch auf Deutsch herausgegeben wurde. Austin entwickelte darin eine Art Stenographie der Gestik, mit deren Hilfe jede denkbare Fuß-, Finger-, Hand-, Arm- oder Kopfposition sowie Bewegungsabläufe durch Buchstaben-kombinationen angezeigt werden können.
Anders als man auf den ersten Blick vielleicht vermuten könnte, sind die theatralischen Gesten des 18. Jahrhunderts meist nicht pantomimischer Natur, sondern Teil einer ins Kunstvolle gehobenen natürlichen Rede. „Daß das Wesen der Action und Gesticulation in der Natur gegründet, und ursprünglich aus dem natürlichen Ausdruck der Affecte und Leidenschaften zu schöpfen ist, leidet keinen Zweifel. Der Gegenstand der Kunst ist bloß die (rohe oder verderbte) Natur zu bilden, zu veredeln und zu verschönern, indem die unbehülflichen und rohen Bewegungen entfernt, und die gefälligsten, schönsten, würdigsten, und doch zugleich bedeutendsten angenommen werden.“ Der Sinn dieser Gestik lag und liegt also nicht nur in einem angestrebten höheren ästhetischen Reiz, sondern vor allem in einer intensiveren Vermittlung und Verkörperlichung des Textinhalts und dadurch einer tieferen Rührung des Zuhörers. „So lehrreich ein Vortrag durch Inhalt, Zusammenhang und neue Entwickelung der Gedanken seyn mag, so fehlt ihm doch das unmittelbare Interesse, die Wärme, die Lebendigkeit, die rührende Kraft, wenn Ton der Stimme und Ausdruck im Gesicht und in der Bewegung oder Haltung des Körpers ihn nicht versinnlichen und der Sympathie näher bringen.“ (Gilbert Austin)